Mario Draghi, ehemaliger Präsident der Europäischen Zentralbank, hat in einer aktuellen Analyse die Lage der Europäischen Union deutlich kritisiert. Nach seiner Einschätzung hat sich die EU über Jahre hinweg in einer Illusion bewegt und ihre geopolitische Bedeutung überschätzt. Während die globale Ordnung zunehmend durch den Wettbewerb zwischen den USA und China geprägt wird, drohe Europa auf die Rolle eines Zuschauers reduziert zu werden.
Draghi verbindet seine Analyse mit einer Forderung nach tiefgreifenden Reformen. Die EU stehe vor einer Vielzahl von Herausforderungen, die von wirtschaftlicher Stagnation über technologische Abhängigkeit bis hin zu politischer Uneinigkeit reichen. Besonders im Verhältnis zu den USA zeigen sich Belastungen: Massive Importzölle von 20 Prozent, eingeführt von Präsident Donald Trump, stellen die transatlantische Zusammenarbeit infrage. Gleichzeitig nutzt China aus Draghis Sicht jede Schwäche Europas konsequent für eigene Vorteile.
In Brüssel sorgt die Analyse für Diskussionen, da sie grundlegende Schwächen offenlegt. Über Jahre habe sich die EU auf ihre Rolle als Wertegemeinschaft und „Soft Power“ konzentriert. Doch nach Draghis Einschätzung reichen diese Instrumente nicht aus, um in einer Weltordnung zu bestehen, die von militärischer Stärke, technologischer Eigenständigkeit und klarer Finanzpolitik geprägt wird.
Ein weiterer Schwerpunkt seiner Kritik betrifft die fehlenden Investitionen in Zukunftstechnologien. Während die USA und China massiv in Bereiche wie künstliche Intelligenz und Quantencomputing investieren, geraten die europäischen Staaten nach seiner Ansicht in endlose Diskussionen über andere politische Schwerpunkte. Dies habe zu einem deutlichen Rückstand geführt.
Als Ausweg schlägt Draghi die Einführung gemeinsamer europäischer Schulden vor. Diese Maßnahme soll die finanziellen Mittel schaffen, um strategisch wichtige Investitionen zu ermöglichen und die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu sichern. Gerade in Deutschland stößt dieser Ansatz jedoch auf Widerstand, da gemeinsame Verschuldung dort traditionell als politisches Tabu gilt.