Zeit für Spekulationen

Hallo allerseits!

Spekulation ist ein natürliches Element der Börse. Jetzt gibt es aber Gelegenheit für alle Bürger zu spekulieren. Anlass ist die Bundestagswahl. Ihr Ausgang bleibt bis zum Abend des 26. September extrem spannend. Aber nicht nur das. Denn anschließend droht uns eine längere Phase der Koalitionsbildung – möglicherweise bis ins kommende Jahr hinein. Meine (spekulative) Prognose: Mit solchen Vorzeichen bleibt eine wesentliche Forderung an die Politik auf absehbare Zeit Illusion: die Beschleunigung aller Prozesse von der Gesetzgebung bis zu deren Umsetzung.

Die großen Herausforderungen unserer Zeit sind hinlänglich bekannt und multilateral diskutiert. Aber wird die nächste Regierung auch die notwendige Kraft für die gebotenen Weichenstellungen aufbringen (können)? Zweifel sind erlaubt. Jedenfalls ist nicht auszuschließen, dass die Qual politischer Langsamkeit auch nach der Wahl anhält. Ich behaupte schon seit langem, dass unsere Demokraten durch die Fülle höchst schwieriger, weil komplizierter Mega-Themen überfordert werden. Klima- und Umweltschutz, Dekarbonisierung, Gesundheit, Bildung, Digitalisierung – allesamt Jahrhundertaufgaben, die dringend zu lösen sind. Spekulieren Sie mit, geschätzte Leser, was nach der Wahl wie schnell vorangetrieben wird (und was nicht).

Eine höchst erfreuliche Entwicklung ist bereits in Gang gekommen, und das ohne massive politische Unterstützung: Die Deutschen entwickeln sich von Sparern zu Anlegern. Man bleibt nicht mehr nur der Tradition treu und pflegt seine Sparbücher und Bankkonten (was ich als „Falschsparen“ bezeichne). Viele Bundesbürger haben endlich Börse und Investmentfonds entdeckt, erkennen zunehmend die langfristigen Vorteile der Aktie. Dieser Trend sollte gefördert werden.

Neben Verbänden, Forschungsinstituten und Banken haben deshalb auch die Börsenverantwortlichen ihre Forderungen und Wünsche an die künftige Regierung angemeldet. So empfiehlt die Deutsche Börse einen Aktionsplan zur Stärkung des Kapitalmarkts. In einem Whitepaper „Strategien zur nachhaltigen Finanzierung der Zukunft Deutschlands“ unterstreicht die Börse den Zeitdruck, um den deutschen wie auch den europäischen Kapitalmarkt zu stärken. Konkrete Empfehlungen für die Eckpunkte eines solchen Aktionsplans liefert das Whitepaper gleich mit.

Wie finanziert Deutschland die enormen Aufgaben? Gleichzeitig sind die öffentlichen Haushalte schon durch die Corona-Krise stark belastet. Private Investitionen und die private Vermögensbildung werden künftig entscheidende Erfolgsfaktoren sein. Daher kommt dem Kapitalmarkt eine Schlüsselrolle auf dem Weg zu einer nachhaltigen und erfolgreichen Zukunft zu. Sagt der Vorstand der Deutsche Börse AG: Heute ist der deutsche Kapitalmarkt nicht bestmöglich aufgestellt. Deshalb brauchen wir dringend eine ganzheitliche nationale Kapitalmarktstrategie, die von Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft getragen wird

Die konkreten Empfehlungen des Whitepapers zielen auf drei Bereiche ab: Erleichterung der eigenkapitalbasierten Unternehmens- und Innovationsfinanzierung durch eine kapitalmarktorientierte Reform des Unternehmensrechts und insbesondere mehr Flexibilität für Start-up-Unternehmen sowie durch bessere steuerliche Bedingungen für die Eigenkapitalfinanzierung. Zweitens eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Kapitalmarkts u.a. durch Vereinheitlichung europäischer Rahmenbedingungen und Umsetzung der Vorschläge zur Kapitalmarktunion. Und drittens bessere Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg – insbesondere für Privatinvestoren – durch Beseitigung von Steuernachteilen für den direkten und indirekten Aktienbesitz, Stärkung des privaten Vermögensaufbaus und der privaten Altersvorsorge mit Aktien, Erhöhung der Aktienquote bei institutionellen Investoren durch gezielte Fördermaßnahmen sowie durch die Stärkung der ökonomischen Bildung und politische Unterstützung einer Kultur der langfristigen Aktienanlage in Deutschland.

Ähnlich sehen die Erwartungen und Wünsche aus, die der Deutsche Derivate Verband (DDV) formuliert hat, denn: Angesichts steigender Wertpapiervermögen und Wertpapierdepots in Deutschland macht sich der Verband für gute Rahmenbedingungen für Wertpapierinvestments stark. Dazu zählen für den DDV in erster Linie gute steuerliche Rahmenbedingungen, eine verbreiterte und vertiefte Finanzbildung, vereinfachte und besser vergleichbare Anlageinformationen sowie eine Erhöhung des Sparerfreibetrags. Nachhaltigkeit und Digitalisierung sieht der Verband als Entwicklungen an, die die Finanzbranche dauerhaft verändern werden.

Das Deutsche Aktieninstitut (DAI) erwartet von den Parteien, dass sie nach der Bundestagswahl den Versprechen der Wahlprogramme auch Taten folgen lassen. Insbesondere bei der Altersvorsorge muss ein Ansparverfahren mit Aktien die gesetzliche Rente ergänzen. Wie die Antworten der im Bundestag vertretenen Parteien auf die acht Wahlprüfsteine rund um das Thema Kapitalmarkt zeigen, gibt es großen Handlungsbedarf. DAI-Chefin Christine Bortenlänger begrüßt, dass manche Parteien schon Vorschläge machen, wie die gesetzliche Rentenversicherung durch ein Ansparverfahren mit Aktien ergänzt werden soll. Diesen Vorschlägen müssen in der nächsten Legislaturperiode aber endlich auch Taten folgen.

Der Komplex Altersvorsorge, Rentenreform und Lebensarbeitszeit ist höchstpolitisch und wird bekanntermaßen schon seit Jahren kontrovers diskutiert. Manche Diskussionen sind für den Beobachter ausgesprochen frustrierend, wenn er hört, wie niedrig das Niveau der Kenntnis von Kapitalmarkt und Börsen der politischen Entscheider mitunter ist.

Spekulieren wir aber erst einmal, wie die Bürger am Sonntag entscheiden werden. Ich tippe darauf, dass anschließend eine Ampel-Koalition herauskommen wird, oder Rot-Rot-Grün, oder …