Deutschland steht vor einem neuen sicherheitspolitischen Risiko – und diesmal betrifft es nicht Gas oder Öl, sondern Arzneimittel. Eine aktuelle Untersuchung des Verbands Pro Generika zeigt, dass das deutsche Gesundheitssystem in alarmierendem Maße von chinesischen Wirkstofflieferungen abhängt. Die Ergebnisse erinnern an die Fehler der Energiepolitik, die das Land jahrelang in die Abhängigkeit von Russland führte.
Verletzliche Lieferketten
Nach Angaben der Studie stammt ein erheblicher Teil der Grundstoffe für lebenswichtige Medikamente – darunter Antibiotika, Schmerzmittel und Mittel gegen Diabetes – aus chinesischer Produktion. Bei über einem Drittel der untersuchten Wirkstoffe wäre ein Lieferstopp aus China mit erheblichen Versorgungsengpässen verbunden.
Besonders brisant: Es handelt sich dabei nicht um seltene Präparate, sondern um Arzneien, die täglich millionenfach verschrieben werden. Die Autoren der Untersuchung sprechen von einer potenziellen Versorgungslücke, die das gesamte Gesundheitssystem binnen weniger Wochen lahmlegen könnte, sollte China Exporte einschränken oder stoppen.
Strategische Abhängigkeit mit Ansage
Hinter dieser Entwicklung steht keine zufällige Marktbewegung, sondern eine bewusste industriepolitische Strategie. Chinesische Unternehmen haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten massiv in die Produktion von pharmazeutischen Grundstoffen investiert. Während Europa und Deutschland ihre eigenen Kapazitäten aufgrund von Kostendruck und Regulierung zurückfuhren, übernahmen chinesische Hersteller zunehmend die weltweite Versorgung.
Pro Generika warnt, dass Peking inzwischen offen über mögliche Exportbeschränkungen diskutiere – ein Signal, das Erinnerungen an frühere Handelskonflikte mit Seltenen Erden weckt. Sollte die Regierung in Peking den Medikamentenexport als politisches Druckmittel nutzen, könnte Deutschland in eine Lage geraten, in der lebenswichtige Arzneien plötzlich knapp werden.
Politisches Versagen mit Ansage
Für den Verband ist klar: Diese Situation ist hausgemacht. Jahrzehntelange Preisregulierung und Ausschreibungsmodelle im Gesundheitswesen hätten die wirtschaftlichen Grundlagen der europäischen Wirkstoffproduktion zerstört. Deutsche Hersteller hätten sich schrittweise vom Markt zurückgezogen, weil die niedrigen Erstattungspreise der Krankenkassen keine wirtschaftlich tragfähige Produktion mehr ermöglichten.
Während man in Deutschland über Nachhaltigkeitsziele und Verwaltungsvorschriften debattierte, habe China die Zeit genutzt, um die pharmazeutische Lieferkette strategisch zu übernehmen. Das Ergebnis: ein industrielles Machtgefälle, das sich heute direkt auf die Versorgungssicherheit auswirkt.
Eine neue Dimension der Abhängigkeit
Die Studie, erstellt in Kooperation mit dem Institut der deutschen Wirtschaft und dem European Union Institute for Security Studies, beschreibt eine Entwicklung, die über einfache Marktmechanismen hinausgeht. Peking arbeite inzwischen daran, auch im Bereich der Biopharmazeutika und innovativen Medikamente technologisch aufzuholen. Damit droht Europa nicht nur die Kontrolle über klassische Wirkstoffe, sondern auch über künftige Schlüsseltechnologien in der Arzneientwicklung zu verlieren.
Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika, formuliert es deutlich: Deutschland dürfe „nicht denselben Fehler machen wie beim russischen Gas“. Eine Mahnung, die gleichzeitig als Anklage gegen eine Politik verstanden werden kann, die wirtschaftliche Resilienz jahrelang vernachlässigt hat.
Fehlende strategische Weitsicht
Die politischen Reaktionen fallen bislang verhalten aus. Zwar betonen Regierungsvertreter die Notwendigkeit einer europäischen Arzneimittelstrategie, doch konkrete Maßnahmen bleiben aus. Forderungen nach Produktionsverlagerungen nach Europa, steuerlichen Anreizen und einer Neugestaltung der Preisbildung verhallen bislang weitgehend.
Der Verband mahnt, dass ohne entschlossene Schritte die medizinische Versorgung in Krisenzeiten nicht gewährleistet werden könne. Schon kleinere Störungen im internationalen Handel hätten in der Vergangenheit gezeigt, wie empfindlich die Lieferketten reagierten.
Nationale Souveränität auf dem Prüfstand
Die Debatte über Medikamentenversorgung ist längst mehr als eine wirtschaftliche Frage. Sie betrifft die nationale Sicherheit.