Was sich derzeit in Baden-Württemberg abzeichnet, wirkt wie ein politisches Paradox. Ausgerechnet Cem Özdemir, langjähriger Repräsentant einer Partei, die sich über Jahrzehnte hinweg als Schutzmacht der Bürgerrechte und als kompromisslose Gegnerin staatlicher Überwachung positioniert hat, schlägt nun einen völlig anderen Ton an. Im Vorfeld der Landtagswahl im März 2026 präsentiert sich Özdemir als Verfechter einer deutlich ausgeweiteten Videoüberwachung und plädiert offen für den Einsatz künstlicher Intelligenz im öffentlichen Raum. Damit verlässt er nicht nur vertrautes ideologisches Terrain, sondern stellt auch ein zentrales Selbstverständnis seiner Partei infrage.
Überwachung konträr zu früheren Forderungen
In Interviews skizziert Özdemir ein Sicherheitskonzept, das auf „unkomplizierte und pragmatische Regeln“ für Videoüberwachung an sogenannten unsicheren Orten setzt. Ziel sei es, das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu stärken. Diese Wortwahl markiert eine bemerkenswerte Verschiebung: Was früher als Einstieg in einen Überwachungsstaat galt, wird nun als notwendige Modernisierung staatlicher Sicherheitsarchitektur verkauft. Der Anspruch, ein „Gesamtkonzept“ vorzulegen, soll offenbar den Eindruck von Ausgewogenheit erzeugen, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier ein politischer Kurswechsel vollzogen wird.
Besonders auffällig ist dabei der Verweis auf ein Pilotprojekt in Mannheim. Dort überwachen bereits zahlreiche Kameras den öffentlichen Raum, ein Großteil davon wird durch KI-gestützte Software ausgewertet. Diese Systeme analysieren Bewegungsmuster, identifizieren Abweichungen vom als normal definierten Verhalten und ordnen Situationen potenziellen Gefährdungskategorien zu. Selbst Befürworter räumen ein, dass diese Technologie fehleranfällig ist und Fehlalarme nicht auszuschließen sind. Dennoch scheint dieser Aspekt in der Argumentation Özdemirs eine untergeordnete Rolle zu spielen.
Politisch wirkt der Vorstoß wie der Versuch, ein neues Profil zu schärfen. Sicherheitsthemen gelten als wahlentscheidend, insbesondere in Zeiten gesellschaftlicher Verunsicherung. Dass ausgerechnet ein grüner Spitzenkandidat dieses Feld besetzt, zeigt, wie stark sich politische Koordinaten verschoben haben. Der frühere moralische Anspruch, Freiheitsrechte kompromisslos zu verteidigen, wird nun gegen das Versprechen größerer Sicherheit eingetauscht. Ob diese Strategie aufgeht oder eher Zweifel an der Glaubwürdigkeit schürt, dürfte eine der zentralen Fragen im kommenden Wahlkampf sein.