Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer ist bekannt dafür, unbequeme Debatten anzustoßen – und genau das tut er nun erneut mit Blick auf Berlin. In einem aktuellen Podcast der Funke-Mediengruppe stellte der parteilose Kommunalpolitiker eine These auf, die zunächst wie reine Provokation wirkt, bei näherer Betrachtung jedoch eine grundsätzliche Schwäche des deutschen Föderalismus offenlegt: Berlin sei in seiner heutigen Form kaum noch handlungsfähig und müsse strukturell neu gedacht werden – notfalls durch eine radikale Zerschlagung.
Verwaltung ohne klare Verantwortung
Palmer beschreibt die Hauptstadt als Ort permanenter Improvisation. Bürger müssten sich durch ein Dickicht aus Zuständigkeiten kämpfen, weil Prozesse nicht verlässlich funktionierten. Diese Diagnose deckt sich mit dem Alltag vieler Berliner: endlose Wartezeiten in Ämtern, überforderte Bezirksverwaltungen, stockende Bau- und Schulprojekte. Für Palmer ist das kein Zufall, sondern das Ergebnis eines Systems, das Verantwortung verwischt, statt sie klar zuzuordnen.
Im Zentrum seiner Kritik steht die Sonderrolle Berlins als Stadt und Bundesland zugleich. Die Bezirke seien weder echte Kommunen mit eigener Entscheidungsmacht noch reine Verwaltungseinheiten mit klaren Vorgaben. Diese Zwischenstellung führe dazu, dass politische Verantwortung versickere. Wo niemand eindeutig zuständig ist, werde auch niemand wirklich zur Rechenschaft gezogen.
Kommunale Stärke statt zentraler Überforderung
Als Gegenmodell verweist Palmer auf süddeutsche Städte wie seine eigene Heimat Tübingen. Dort, so seine Argumentation, liege die Entscheidungsgewalt dort, wo die Folgen politischer Entscheidungen unmittelbar spürbar seien. Bürgermeister und Gemeinderäte könnten nicht ausweichen, sondern müssten liefern. Genau dieses Prinzip fehle Berlin.
Sein Vorschlag reicht von einer echten kommunalen Eigenständigkeit der Bezirke bis hin zu einer grundlegenden Neuordnung der Hauptstadtstrukturen. Ziel sei nicht Zerstörung, sondern Funktionsfähigkeit.
Selbstkritik statt Überheblichkeit
Bemerkenswert ist Palmers Tonfall. Der frühere Grünen-Politiker distanziert sich von früheren süffisanten Kommentaren über Berlin. Angesichts eigener Großprojekte wie Stuttgart 21 und der Probleme im süddeutschen Bahnverkehr sei moralische Überlegenheit fehl am Platz. Berlin stehe exemplarisch für ein strukturelles Problem – nicht für individuelles Versagen.
Palmers Beitrag ist damit weniger Hauptstadt-Bashing als ein Plädoyer für klare Zuständigkeiten, echte kommunale Verantwortung und den Mut, über festgefahrene Strukturen neu nachzudenken.