US-Thinktank „Stratfor“ kalkuliert Krieg zwischen NATO und Russland

Archiv - Bild nicht mehr verfügbar

Ein führender US-amerikanischer Think-Tank hat mehrere Szenarien für die Ukraine-Krise kalkuliert. Neben „verstärkter Destabilisierungsarbeit“ seitens Russland rechnet man auch mit einem offenen Krieg, bei dem schließlich auch die NATO militärisch eingreifen würde. Der Bericht ist darauf zurückzuführen, dass russische Regierungsvertreter die Obama-Administration gewarnt haben sollen, dass russische Soldaten, sollte es zu US-Waffenlieferungen an die Ukraine kommen, verstärkt vordringen würden.

Strategic Forecasting, Inc (abgekürzt Stratfor) wurde 2006 als ein führender privater US-amerikanischer Think Tank gegründet, der Analysen, Berichte und Zukunftsprojektionen zur Geopolitik, zu Sicherheitsfragen und Konflikten in aller Welt anbietet. Täglich veröffentlicht Stratfor Länderberichte sowie Analysen zu globalen und regionalen Konflikten. In seinen Analysen bringt Stratfor nicht nur Hintergrundinformationen zu aktuellen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, sondern erschließt aus den Bestimmungsfaktoren einer Konfliktlage oder Ländersituation zugleich Voraussagen für die Zukunft.

Dabei sind die Berichte knapp und präzise und kommen schnell auf den „Punkt“. Die Stratfor-Analysen sind als tiefgründige Schnellinformation zu Konfliktlagen, regionalen und Länderentwicklungen nicht nur in journalistischen Kreisen beliebt, sondern auch bei Regierungsinstitutionen, Firmen und wissenschaftlichen Instituten. Das Expertenteam des Unternehmens besteht aus Politologen, Ökonomen und Sicherheitsexperten, die über „Informanten“ in allen Regionen der Welt verfügen und eine Vielzahl von allgemein zugänglichen und verdeckten Quellen auswerten.

Das US-Magazin Barron’s bezeichnete Stratfor aufgrund seiner nachrichtendienstlichen Eigenschaften 2010 als „Schatten-CIA“.

Seit 1996 publiziert Stratfor einen täglichen Bericht mit aktuellen Entwicklungen. Dieser Service wird heute über das Internet angeboten und steht gegen eine Gebühr jedem Interessierten offen. Daneben wird eine Vielzahl von geopolitisch verwertbaren Informationen angeboten. Dies umfasst beispielsweise umfangreiches Kartenmaterial, Auftragsarbeiten und regionale Analysen. Die Liste der Kunden wurde bisher von Stratfor nicht veröffentlicht, ist aber teilweise über Wikileaks einsehbar. Es greifen beispielsweise einige internationale Konzerne, insbesondere aus der Rohstoffbranche, auf Stratfor zurück. Außerdem werden auch staatliche Organisationen mit Informationen versorgt. Viele größere amerikanische Medien verwenden Stratfor für Hintergrundinformationen oder als Quelle. Auch deutschsprachige Medien nutzen Stratfor.

Einer der aktuellen Kunden soll wohl die Obama-Administration selbst sein. Es ging darum die Optionen zu kalkulieren, die möglich wären, würde in der Ukraine ganz offen geführter staatlicher Krieg zwischen der Ukraine und Russland ausbrechen. Damit reagierte man auf eine vermeintliche Drohung aus dem Kreml, bei möglichen US-Waffenlieferungen an die Ukraine, selbst Soldaten in die Ukraine zu schicken.

Die sozialistische Tageszeitung junge Welt zitiert den Bericht folgendermaßen: „Die einfachste Möglichkeit wäre demnach ein Ausbruch aus dem Aufstandsgebiet im Donbass und ein Vorstoß der russischen Armee entlang der Schwarzmeerküste bis zum Unterlauf des Dnjepr. Er würde nach Einschätzung der US-Analysten rund 30.000 Soldaten benötigen und wäre in ein bis zwei Wochen erfolgreich zu beenden.

Der Gewinn: ein Landzugang zur ansonsten leicht abzuschneidenden oder von See zu blockierenden Krim und mit der Besetzung des südlichen Dnjepr-Ufers auch ein Zugriff auf dessen Süßwasservorräte. Der Nachteil: eine lange ungeschützte und durchbruchsgefährdete Nordflanke von geringer operativer Tiefe. Etwa 45.000 Soldaten würden auf Dauer gebraucht, um diese Linie zu halten und möglichen Widerstand proukrainischer Kräfte zu unterdrücken. Eine Erweiterung dieser Option wäre eine Fortsetzung des Vorstoßes entlang der Küste westlich des unteren Dnjepr nach Odessa und Transnistrien. Dies würde etwa doppelt so viele Soldaten erfordern und doppelt so lange dauern. Als größtes Risiko wird in diesem Szenario der Zwang genannt, den Dnjepr zu überqueren; außerdem gäbe es eine noch längere ungeschützte Flanke.

Vor diesem Hintergrund hält »Stratfor«, sollte es zu einem solchen Krieg kommen, eine Generaloffensive entlang der ganzen ukrainischen Ostgrenze für die militärisch einleuchtendste Option. Sie würde demnach, weil auf breiterer Front vorgetragen, auch nicht länger dauern als die erste Variante, hätte aber den Vorteil, durch die Besetzung des gesamten Dnjepr-Ostufers eine für die Verteidigung geeignete Linie zu erreichen: der Fluss ist überwiegend aufgestaut und damit sehr breit, die Zahl der Brücken ist gering; die Übergänge sind oft Straßen auf der Krone von Staudämmen: sie zu zerstören, würde eine Flutkatastrophe auslösen, die beide Seiten träfe. Der Nachteil für Moskau: bis zu 250.000 russische Soldaten müssten eingesetzt werden, um das eroberte Gebiet zu halten. Die Gesamtstärke der russischen Landstreitkräfte beträgt aber nur 280.000 Mann. Diese wären also fast vollständig in der Ukraine gebunden und stünden damit an anderen Krisenherden nicht mehr zur Verfügung.

Das würde laut »Stratfor« vor allem dann gelten, wenn es der Ukraine gelänge, eine umfangreiche Partisanenbewegung gegen eine unterstellte russische Besetzung des Ostteils des Landes zu organisieren. Es fällt auf, dass gleich zwei Einheiten der ukrainischen Freikorps derzeit mit US-Unterstützung eine »Umschulung« zum Untergrundkampf durchlaufen: das Bataillon »Donbass« unter Semjon Semjontschenko und das Bataillon »Dnepr-1« unter Jurij Bereza. Letzteres hat vor einigen Wochen angefangen, Bewerber mit Englischkenntnissen zu suchen, um eine »Spezialeinheit« aufzubauen.

Ein Gegenschlag der NATO oder der USA im Alleingang würde demnach vor allem aus der Luft geführt werden; die NATO-Streitmacht bräuchte laut »Stratfor« etwa drei Wochen, um in vollem Umfang am Kriegsschauplatz eingetroffen zu sein, könnte also anfängliche Eroberungen nicht völlig verhindern. Hingegen könnte sie später durch Luftangriffe auf russische Ziele das Halten solcher Gebiete in Frage stellen. Was bei solchen Bombardements von der Ostukraine übrigbliebe, ist absehbar; auch auf Seiten der NATO-Luftwaffen wäre mit erheblichen Verlusten zu rechnen.“

Literatur:

Quelle: